L’Anamorphose Chromatique

 

**Die Chromatische Anamorphose**

 

Die Anamorphose ist eine reversible Verformung des Bildes, die normalerweise mit Hilfe eines optischen Instruments in der Nähe des Motivs oder durch das Betrachten der Leinwand aus einem bestimmten Winkel erreicht wird. So nimmt das verborgene Bild Gestalt an, während sich unser Blick bewegt.

 

Im 17. und 18. Jahrhundert war diese Technik in der Malerei weit verbreitet. Heute hat sie eine lange und fruchtbare Entwicklung durchlaufen, die von der Kunst ausgehend zu zahlreichen technischen und ästhetischen Innovationen in Bereichen wie Architektur, Audiovisuelles, Kartographie usw. beigetragen hat.

 

In China gab es die Anamorphosen der Ming-Dynastie (1368-1644), bei denen eine absichtlich verzerrte Abbildung mit Hilfe eines zylindrischen Spiegels ihr ursprüngliches Aussehen zurückerhält. Das Instrument wird somit zum Entschlüsseler von Formen. In Europa sind Leonardo da Vincis zwei anamorphische Zeichnungen, die ein Gesicht und ein Auge darstellen, die Perspektiven von Pietro Della Francesca und natürlich „Die Gesandten“ von Hans Holbein, die heute in der National Gallery in London aufbewahrt werden, hervorzuheben.

 

In jüngerer Zeit haben sich Künstler wie Dali und zeitgenössischere Künstler wie Felice Varini der Anamorphose gewidmet. Carlos Cruz-Diez realisiert durch seine „Physiochromies“, bestehend aus bemalten Metalllamellen, chromatische Variationen und Glanz, die den Blick herausfordern.

 

Robert Schaberl schafft eine neue starke Form: die Chromatische Anamorphose. Während traditionelle Anamorphosen hauptsächlich mit Volumen und Formverzerrungen spielen, konzentriert sich die Chromatische auf Farben und Tiefe. Durch eine kombinatorische Überlagerung von Farben, die bis zu 70 Schichten umfasst, und durch eine neuartige Technik des kreisförmigen Malens erzeugt der Künstler sehr subtile Effekte chromatischer Variationen. Die Metamorphose erfolgt an der Oberfläche und in die Tiefe, nicht im Relief oder in der Verformung des Motivs. Dieses wird nicht verzerrt, sondern unter unserem bewegten Blick transformiert. Die auf die Leinwand aufgetragene Farbe gewinnt durch ihre Variationen an Volumen und hinterfragt unseren Standpunkt durch die Illusion einer monochromen Malerei, die multichrom wird.

 

Während wir uns vor der statischen Leinwand bewegen, wird die kreisförmige Form zu einem Gegenüber, einem ruhigen Auge, das unserer Bewegung folgt und uns gleichzeitig beobachtet und uns etwas zu sehen gibt. Jede Farbvariation ist ein anderer Blick, der unsere Aufmerksamkeit fesselt.

 

Die Erscheinungen werden trügerisch, eine Farbe kann andere verbergen. Die beobachtete Realität wird relativ, sie verformt sich unter unserem Blick, der von einer wirbelnden Form absorbiert wird. Die ungeschützten Augen können die Materialität des Bildes, das vielfältig wird, nicht mehr festhalten. Sie werden auf eine einfache Rolle der Detektion im Dienste unserer Sinne und Wahrnehmungen zurückgeworfen. Die Abstraktion beschränkt sich nicht darauf, zu erscheinen, sie spricht zu uns durch die Farben und ihre Variationen.

 

Das Werk erinnert uns daran, nicht auf den Schein zu vertrauen und sich die Zeit zu nehmen, jedes Ding aus verschiedenen Blickwinkeln zu erkunden.

 

Wie das Schweigen, das viel sagt, verbergen manchmal die einfachsten Formen die komplexesten Werke. Das bewegte, fast lebendige Bild und das Fehlen eines Subjekts verwirren und bezaubern uns zugleich. Angesichts dieser variablen Abstraktion wird unser Blick zum Subjekt und in der Erweiterung wir selbst. Das Werk wird somit zum Spiegel unserer Gedanken und Emotionen...

 

© Text Nazim Kadri, Paris 2012